Deutschland: Viel Spannung, wenig Veränderung?
Selten zuvor in Deutschland war der Ausgang einer Bundestagswahl so unsicher wie in diesem Jahr. Kaum jemals gab es so viele verschiedene Koalitionsmöglichkeiten. Wie die Wahl in Deutschland am 26. September 2021 ausgehen und was das für Europa bedeuten könnte, lesen sie hier.
Aktuell scheint eine Dreierkoalition am wahrscheinlichsten, selbst falls es rein rechnerisch nochmals knapp für eine Fortsetzung der bisherigen Regierung von CDU1/CSU2 und SPD3 reichen sollte. Welche Aussagen sich aus Investorensicht mit einiger Sicherheit jetzt schon treffen lassen, haben wir für Sie zusammengefasst.
Wird Deutschland geschwächt?
Nach dieser Wahl wird es wohl in Deutschland und auch in Europa eine gewisse Zäsur geben, denn die Ära Merkel ist unwiderruflich beendet. In der Europäischen Union könnte die Position Deutschlands zumindest zeitweilig geschwächt werden, trotz einer deutschen EU-Kommissionspräsidentin (Ursula von der Leyen).
In Deutschland selbst wird es wohl keinen radikalen Politikwechsel geben. Dafür ist keine Partei in einer ausreichend starken Position. Alle werden mehr oder minder große Abstriche von ihren Positionen machen müssen. Einige Prioritäten könnten sich allerdings ändern, Trends beschleunigen oder verzögern.
Fast alles möglich
Bereits geringfügige Stimmenverschiebungen bis zum Wahltag können die aktuell diskutierten Regierungskonstellationen drastisch ändern. Fakt ist, dass derzeit eine wie auch immer zusammengesetzte Dreierkoalition am wahrscheinlichsten ist. Ebenso wird es in jedweden Dreierkonstellationen genug Konfliktpotenzial für schwierige Verhandlungen und deren mögliches Scheitern geben. Eine Minderheitsregierung (SPD und Grüne) ist ebenfalls im Bereich des Möglichen. Eine kleine Restwahrscheinlichkeit existiert für ein links-grünes Regierungsbündnis von SPD, Grünen und Linkspartei, doch dieses ist aus vielen Gründen unwahrscheinlich und wird daher auch von den Finanzmärkten faktisch nicht gepreist.
In etwaigen Verhandlungen könnte die SPD (falls sie stimmenstärkste Partei wird) eine Linkskoalition als Drohkulisse gegenüber CDU/CSU oder FDP4 aufbauen, was vermutlich auch auf den Finanzmärkten zeitweilig für Bewegung sorgen könnte.
Wenig Auswirkung auf Anleihen -und Aktienmärkte
Auf Anleihen- und Aktienmärkte sind sehr begrenzte Auswirkungen der Wahl zu erwarten. Wie auch immer die neue Regierungskoalition aussehen wird, die fiskal-konservativen Kräfte werden geschwächt sein. Das bedeutet potenziell eine größere Neigung zu Staatsausgaben und neuen Schulden, sowohl für den Haushalt Deutschlands als auch für jenen der Europäischen Union.
Europapolitisch sind sich die derzeit wählerstärksten drei Parteien (Union, SPD, Grüne) in den wesentlichsten Punkten einig; die Zeichen stehen auf Kontinuität. Dissens gibt es bei der Fiskalunion, die bisher mehrheitlich von CDU und CSU abgelehnt wird. Zugleich scheint eine solche Fiskalunion aber im Grundsatz vorgezeichnet.
Sowohl die Anleihen- als auch die Aktienmärkte scheinen auf eine tendenziell lockerere deutsche Fiskalpolitik weitgehend eingestellt zu sein. Eine aktivere Fiskalpolitik wird ja auch von der Europäischen Zentralbank (EZB) immer wieder angemahnt. Marktreaktionen sind trotzdem definitiv möglich.
Sobald die mit den Wahlen verbundene Unsicherheit aus dem Weg geräumt ist, könnten die Aktienkurse in Deutschland weiter nach oben klettern, zumal sich der Aktienmarkt Deutschland in den letzten Monaten/Jahren im europäischen Vergleich eher unterdurchschnittlich entwickelt hat und auch aus Bewertungssicht Aufholpotenzial aufweist.
Aktienmärkte in Deutschland
- Automobile
Die Automobilindustrie samt Zulieferern bildet nach wie vor das Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Sie stellt sich mit hohem Tempo auf E-Mobilität und ein Ende des Verbrennungsmotors für PKW um. Lesen Sie auch: E-Mobilität als Stütze der Nachhaltigkeit.
Mit einer grünen Regierungsbeteiligung droht der Branche eine zusätzliche Beschleunigung von regulatorischer Seite. Doch zugleich sind die Grünen wahrscheinlich maximal Juniorpartner einer Koalition. Es ist unwahrscheinlich, dass die künftige deutsche Regierung den wirtschaftlichen Ast absägen wird, auf dem Deutschland nach wie vor sitzt. Auch vom Thema Mindestlohnanhebung droht recht wenig Gefahr für die deutschen Automobilfirmen, denn ihre Löhne liegen bereits deutlich darüber. Anders sieht die Situation bei dem einen oder anderen Zulieferer und im Servicebereich aus. Dort könnte es zu weiterem Kosten- und Margendruck kommen, der gegebenenfalls auch bei den Automobilfirmen und/oder den Autopreisen ankommen wird. - Versorger
Stromversorger mit erheblichem Kohlestromanteil dürften tendenziell Probleme bekommen, speziell bei grüner Regierungsbeteiligung. Andererseits kann aber auch die Öko-Partei die Realitäten nicht ignorieren. So ist heuer der Kohlestromanteil in Deutschland wieder auf Platz eins gesprungen und hat Windkraft von der Spitzenposition verdrängt, weil deutlich weniger Wind wehte und damit fossile Brennstoffe einspringen mussten. Faktisch alle deutschen Parteien haben sich inzwischen – mit unterschiedlichen Zeithorizonten – die Energiewende und den Klimaschutz auf die Fahnen geschrieben und damit den schrittweisen Ausstieg aus fossilen Energieträgern.
Letztlich dürften aber die ökonomischen Realitäten einschließlich Ressourcenverfügbarkeit den Zeitplan diktieren, nicht politische oder populistische Vorstellungen. Unabhängig davon gibt auch der Green Deal der Europäischen Union bereits einen starken Rahmen vor, an den sich jede neue Bundesregierung halten muss. Lesen Sie dazu auch: Europas Green Deal. - Chemie
CO2-Ziele und Klimawandel stellen eine große Herausforderung für die Branche dar. Druck kommt diesbezüglich auch von der Autoindustrie, in die ca. 20 bis 25 % der Produktion vieler deutscher Chemiefirmen fließen. Doch die Unternehmen arbeiten bereits seit längerem an Lösungen, z.B. mittels Liefervereinbarungen über Strom aus erneuerbaren Energien. Elektroautos eröffnen zudem neue Absatzchancen, denn sie benötigen mehr chemische Produktkomponenten und leichtere Bauteile durch das hohe Batteriegewicht, wofür sich vielfach Kunststoffe anbieten. Batterien basieren zudem in erster Linie auf chemischen Technologien. Öffentliche Förderungen und etwaige technologische Fortschritte bei Wasserstofftechnologien (auch interessant: Wasserstoff als Klimaretter?) könnten einen Durchbruch hin zu kostengünstiger Klimaneutralität bedeuten. Die noch vor 10 Jahren so verlockende Standortalternative USA (extrem billiges Schiefer-Erdgas) hat inzwischen viel von ihrer einstigen Attraktivität verloren. - Fluglinien/Flughäfen
Sowohl Lufthansa als auch der wichtigste Flughafen in Frankfurt zahlen bereits jetzt zumeist mehr als der in Diskussion befindliche deutsche Mindestlohn. Je nach Regierungskoalition könnte aber der Druck wachsen, den innerdeutschen Flugverkehr mehr und schneller auf die Schiene zu verlagern. Zugleich könnte aber auch stärker gegen Billiganbieter und Dumpingpreise vorgegangen werden, was den großen Playern der Branche sowohl bei Airlines als auch Flughäfen in die Karten spielen könnte. Die globale Konjunktur, der weltweite Tourismus und der weitere Verlauf der Pandemie dürften in jedem Fall die sehr viel wichtigeren Einflussfaktoren für die Branche in den kommenden Jahren sein.
Die Raiffeisen KAG fokussiert sich bei ihren Veranlagungsentscheidungen auf langfristige Unternehmensperspektiven und nicht auf kurzfristige politische oder wirtschaftliche Ereignisse. Natürlich werden wir evaluieren, ob und inwiefern sich durch die Wahlergebnisse diesbezüglich größere Änderungen ergeben. Die deutsche Bundestagswahl unterscheidet sich in dieser Hinsicht aber grundsätzlich nicht von anderen potenziell marktbewegenden Ereignissen.
1CDU: Christlich Demokratische Union, 2CSU: Christlich-Soziale Union, 3SPD: Sozialdemokratische Partei Deutschlands, 4FDP: Freie Demokratische Partei.
Dies ist eine Marketingmitteilung der Raiffeisen Kapitalanlage GmbH, Mooslackengasse 12, 1190 Wien. Stand/Erstelldatum: September 2021